Neurodivergenter Künstler (Autist, Asperger), Buchautor, TV- und Filmproduktion, Speaker, Artistic Research: Armutsforschung (Klassismusforschung) Die Zukunft der Arbeit.

Offener Brief an den SWR Intendanten Prof. Dr. Kai Gniffke, der aktuell den ARD Vorsitz hat.

Aus dem Film Transferprotokoll, Lulu Bail

SWR
Prof. Dr. Kai Gniffke
Der Intendant
Neckarstraße 230
70190 Stuttgart

cc: Über 100 Personen und Institutionen.  

22.09.2024

Offener Brief

Sehr geehrter Herr Intendant, Prof. Dr. Kai Gniffke,

Ich danke für Ihr Schreiben vom 19.9.24 und möchte hier mit einem offenen Brief antworten.

In der Forschung sprechen wir von „Kulturalisierung der Kunst“, wenn versucht wird, diese in einer gefahrlosen Nische zu halten, damit sie die Gesellschaft möglichst nicht stört. Man spricht auch von der Gettoisierung der Kunst. Adorno und Walter Benjamin warnten vor der „Ästhetisierung statt Politisierung“ und meinten damit, dass man der Kunst nicht selten ihre politische Dimension raubt, verhandelt man sie allein auf der Ebene der Ästhetik, also formaler Diskurse. Die Entwicklung, die Adorno und Benjamin verhindern wollten, die sehen wir heute bei den Öffentlich-Rechtlichen überall. Besonders, wenn es um die Auswahl des Programms geht.
            Sie wählen nach Kriterien einer Ästhetik, formal und inhaltlich, aber Sie sind unfähig, Disruption auszuhalten. Auf den Vorwurf des Mangels an Diversität im Sinne der Abbildung der Bruchstellen in dieser Gesellschaft, reagieren Sie mit dem Hinweis auf die von Ihnen „sortierte Vielfalt“. Sie maßen sich damit an, zu glauben, Sie wüssten besser, was die Gesellschaft benötigt, als es die freie Szene vor Ort tut, als die Menschen die Missstände erleben und authentisch davon berichten können, statt nur von außen zu kommentieren. Das ist ein fataler Fehler.

Depolitisierung der Kunst meint, dass Kunst aus ihrem kritischen und gesellschaftlichen Kontext herausgelöst und zu einem harmlosen, konsumierbaren Produkt gemacht wird. Indem Kunst depolitisiert wird, wird sie zu einem Teil einer Nische gemacht, die nicht mehr auf das breitere gesellschaftliche Geschehen Einfluss nehmen kann. Gefährlich ist dies besonders, wenn eine Gesellschaft im Rechtsruck versinkt.

In Ihrem Schreiben vom 19. September 2024 kann man diese Gefahr erkennen, die Ihnen vermutlich nicht bewusst ist. Sie schreiben zunächst über den Film: „Ihr Film „Transferprotokoll“ ist ein hybrider Mix aus Gesellschaftssatire, Dokufiction mit Anleihen im Science-Fiction-Genre, künstlerisches Selbstporträt und zugespitztem Thesenfilm. In Ihrer satirischen Beschäftigung mit dem Thema Armut drehen Sie den Spieß um und klagen die deutsche Bürokratie an, um Ihren Blick auf gesellschaftliche Machtstrukturen pointiert darzustellen. Geschmacklich und politisch kann man sich an Ihrem Werk reiben.“Diese Einschätzung stimmt, doch anschließend schreiben Sie: „Dennoch ist unser Eindruck, dass Probleme mit Hartz IV bzw. dem heutigen Bürgergeld und der damit verbundenen Kritik einer anderen Vermittlung an unser Publikum bedürfen.“
            „Ihr Publikum“, verzeihen Sie mir die Zuspitzung, scheint demnach senil, dumm, ungebildet, sprich, Sie trauen diesem nicht zu, selbstständig mit Kunst umzugehen. Auch nicht mit einer Kritik am Bürgergeldsystem, welche nicht Mainstream ist, also nicht den üblichen klassistischen Rassismen über diskriminierte Gruppen entspricht, die nur allzu gerne auch von den Öffentlich-Rechtlichen repliziert werden.  Schon gar nicht wollen Sie, dass diese Missstände von jemandem beschrieben werden, der diese Menschenverachtung selbst erlebt hat und daher die Distanzstrategien derer die wegsehen wollen durchbricht.        
            „Ihr Publikum“ wird von Ihnen behandelt, als hänge es von Ihrem Urteil ab, von Ihrer Fähigkeit zu entscheiden, was für es gut oder schlecht ist. Weil diesem Anspruch mit Haltung kaum zu begegnen ist, wählen Sie die Austauschbarkeit und das Mittelmaß. Im „Safe Space“ entziehen Sie sich als öffentlich-rechtliche Sender der Verantwortung.
            Sie sind ein weißer Mann in einer extrem privilegierten Position. Ich bin ein im Prekariat lebender Migrant und Kulturschaffender, der von Rechtsradikalen in Brandenburg verfolgt wird und versucht hat mit geringen Mitteln in vier Jahren unbezahlter Arbeit etwas gegen die Zustände zu unternehmen, indem die SchauspielerInnen und ich ohne Geld einen Film machten.  
            Verzeihen Sie, wenn meine Sprache daher nicht ausreichend bequem für „Ihr Publikum“ ist! Wie auch, wenn ich weder über Ihre Ressourcen, Ihr Budget verfügte, noch über Ihren Zynismus in der Frage, ob Filme der freien Szene von der Mehrheit verstanden werden, oder gar nutzlos sind. Sie drängen die eh schon Marginalisierten immer weiter aus dem öffentlichen Diskurs und erledigen damit die Arbeit der Rechten. Dies tun Sie auf tragische Weise in dem Glauben „Ausgewogenheit“ zu bewahren, die Sie als reibungsfreie Zone missverstehen.

Ihre Entscheidung schwächt die Zivilgesellschaft und verengt den Diskurskorridor, ein Vorwurf der Ihnen eh schon oft genug gemacht wird, fataler Weise am Lautesten von Rechts.   
            Dies trifft nicht nur mich, sondern weite Teile der Kunst werden heute von Rechts bedroht. Sie implizieren mit Ihrem Schreiben, unsere Arbeit ginge die Gesellschaft nichts an, die Kunst sei ein Produkt, welches sich nicht aufdrängen dürfe. Sie verstehen Ihren kulturellen Auftrag falsch. Denn wir sollen nach Ihrer Ansicht nicht stören. Sie machen die Öffentlich-Rechtlichen dadurch abermals bedeutungslos für den demokratischen Diskurs.

Der Film Transferprotokoll ist eine Zumutung. Das stimmt. Die Frage lautet aber, ist nicht genau diese Zumutung, die ja nicht Recht haben will, sondern einen Diskurs dient, nicht in Zeiten in denen 30% im Osten Faschisten wählen und ein Rechtspopulist wie Friedrich Merz, der volksverhetzend gegen Arme hetzt, bald Bundeskanzler werden könnte, ein Film, den wir uns alle zumuten sollten? Warum dürfen Arme sich bei Ihnen in ARD und SWR nicht frei ausdrücken? Welchen Besitzstand wollen Sie hier als Privileg wahren?

Ich bitte Sie Ihre Entscheidung, die nun eine Entscheidung der Zivilgesellschaft werden wird, zu überdenken. Sie könnten den Film einfach kontextualisieren. Arme haben es durchaus verdient, dass man den Aufwand betreibt, ihre Sicht genauso einzuordnen und dem Raum zu geben, wie das bei den Arbeiten von VIPs der Fall ist. Sie können sich sogar von dem Film distanzieren, aber zeigen sie ihn! Wenn Kunst nicht gezeigt wird, weil sie Reibung erzeugt, womit dann sollen wir Faschismus, also Gleichschaltung effektiv bekämpfen? Tausende Arme, MigrantInnen und Kulturschaffende sind von einem neuen Rechtsruck massiv bedroht. Bringen Sie uns nicht zum Schweigen!

Wir als Publikum gehören Ihnen nicht und wir wollen Ihnen auch nicht gehören. In Zeiten wie diesen dürfen Programmentscheidungen nicht allein RedakteurInnen überlassen werden, für die Themen austauschbar sind. Denn wir sind es mit unserem Leid und unserem Anliegen nicht.

Die freie Szene, die Marginalisierten fordern einen Platz am Tisch.

MfG

Timothy Speed

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