Bohème - Zeit skurriler Ordnung
Die Zuflucht der Fremden ist das Skurrile. Denn im Skurrilen ist das Andersartige aufgewertet. Daher erscheint es mir nur logisch, dass die Ordnung einer humanen Gesellschaft, einer zukünftigen Gesellschaft sich zuerst im Skurrilen, in fremdartiger Ordnung zeigt.
Das unterscheidet meinen Ansatz schon sehr früh wesentlich von dem von Menschen, die entlang gutbürgerlicher Konventionen versuchen aus der etablierten Ordnung heraus zu agieren. Dieser Weg ist mir von Anfang an versperrt. Ich bin Migrant. Ich bin Künstler. Ich bin in einer fremden Welt.
Als Teenager erforsche ich mitunter diese neuen Verhältnisse im Kultur- und Schwulenlokal “Brüderlein fein” in Graz, wo sich in dunkler Nacht Gestalten treffen und sich die Bezüge verschieben. Diese Unordnung ist für mich beruhigend.
Da raucht der Polizeikomissar mit dem Unterweltsganoven einen Joint, allerlei KünstlerInnen steigen durch Fenster ein und aus, liegen in Särgen oder lauschen den Gedichten des Dichterfürsten Herwig von Kreutzbruck, der dort einen Thron besitzt.
Ich wachse künstlerisch in einem Zirkus auf. Das kleine Paris jener Tage, aber ich bin kein Hedonist, sondern ich studiere dort. Es ist meine Universität. Die Philosophensemmel und der Wein kosten nur wenige Schilling. Herwig von Kreutzbruck, Verlagslektor, wird ein guter Freund und Förderer. Man bespricht später bei ihm im Wohnzimmer, seine gefühlt 90 Jährige Mutter serviert noch ein Süppchen, in langen Nächten Texte. Er hält sehr sehr umfangreiche fünfspurige Vorträge über das Wesen der Welt, bestellt mehrmals einen Taxifahrer, der ihm die nächste Weinflasche in die Villa bringen und auch öffnen soll.
Der Schriftsteller Gerhard Roth, mit dessen Neffen Emil Roth ich viel rumhänge, schreibt über die Legende Kreutzbruck:
„Er ging mit einem Spazierstock, obwohl er ihn gar nicht gebraucht hat, benutze ihn in Lokalen zum Herumdirigieren während seiner Reden und poetischen Ansprachen. Für mich war Herwig von Kreutzbruck eng mit meinem Beginn als Schriftsteller verbunden. Er war es, der mir den Weg in die Moderne gewiesen hat… in der Schule waren es Goethe und Schiller, Kleist und Büchner. Er überraschte mich mit einer Literatur, von der ich bis dahin nichts gewusst hatte, zum Beispiel mit Rimbaud, Verlaine, Baudelaire oder Villon. Ich kann nur hoffen, dass man ihn in Graz nicht vergessen hat und seine Poesie für eine breitere Öffentlichkeit zugänglich macht.“
Es waren Nächte voller intellektueller Diskurse, im Lokal bis zur Sperrstunde, zu der immer das Lied ‘Brüderlein fein” aus Ferdinand Raimunds Theaterstück „Der Bauer als Millionär“ gespielt wird, um den Morgen anzukündigen, der von einer anderen Realität beherrscht ist.